Anders als sonst muss ich mich auf die Mathematikhausaufgaben konzentrieren – das ist ungewöhnlich, es macht mich geradezu wütend. Denn Mathematik macht mir keine Probleme; ich konnte schon rechnen, bevor ich lesen und schreiben konnte.
Doch heute ist es anders: Nur mit vollster Anstrengung kann ich meine Gedanken zusammenhalten und mich auf die Zahlen fokussieren. Dennoch verschwimmen sie in Gedanken immer wieder von neuem. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert.
Ich bekomme Angst.
Stumm und starr sitze ich an dem kleinen Holztisch, den ich zum elften Geburtstag bekomme hatte, als ich – wie erwartet – auf das Gymnasium übertrat. Hinter mir ist eine weiße, leere Wand, so leer wie mein Zimmer, so leer wie ich.
Bis auf die schwere Holztür, die vor einigen Augenblicken aus dem Nichts erschienen ist. Wenn ich meine Aufgaben erledige, geschieht das hin und wieder. Es ist keine Absicht.
Ich weiß mittlerweile, dass mir nichts passieren kann, wenn ich nicht hindurchgehe, aber das Unbehagen lässt sich nicht abschütteln und es beeinträchtigt meine Konzentrationsfähigkeit erheblich.
Ich fasse allen meinen Mut zusammen, und setze dazu an, mich auf meinem Holzschemel umzudrehen. Letztendlich gewinnt die Neugierde immer.
Gerade in dem Moment, als ich es tun will, schneidet sich die barsche Stimme meiner Stiefmutter durch die Luft. Mit bleichem Gesicht starre ich sie an und die Panik wird stärker.
„Was ist Jakob? Siehst du wieder Türen?“ Spöttisch schüttelt sie den Kopf und verlässt mein kleines Zimmer.
Ruckartig drehe ich mich um und balle die Faust. Die Tür ist verschwunden.
Grelles, flackerndes Licht. Ein Rumpeln. Ich wurde durchgeschüttelt. Benommen öffnete ich die Augen. Wo war ich? Die Aufzugskabine, fiel es mir ein. Ich war stecken geblieben. Und ohnmächtig geworden!
Gerade hatte sich die Aufzugskabine wieder in Bewegung gesetzt, wodurch ich wohl wieder zu Bewusstsein gekommen war und langsam erlangte ich meine Fassung wieder zurück. Ich rechnete fest damit, dass das Möbelhaus nun geschlossen haben würde, schließlich war ich mindestens eine Viertelstunde ohnmächtig gewesen, das hatte ich einfach im Gefühl. Doch als ich einen Blick auf meine Armbanduhr warf, stellte ich erfreut fest, dass seit meiner Ankunft im Parkhaus gerade einmal zehn Minuten vergangen waren. Ich würde also noch genug Zeit haben, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen und wenigstens einmal das Angebot an Couchtischen zu schichten. Andererseits kam es mir beinahe unglaublich vor, dass sich die tatsächlich vergangene Zeitspanne so signifikant von der gefühlten unterschied, wo ich doch üblicherweise verstrichene Zeit auf die Minute genau schätzen konnte.
Doch noch viel wichtiger: Was war überhaupt geschehen? Erschreckt stellte ich fest, dass ich von den Geschehnissen in der Aufzugskabine, die in diesem Moment zum Stillstand kam, worauf sich die Türen langsam öffneten, kaum noch etwas wusste. Die Schwärze, die sich nach dem plötzlichen Erlöschen der Neonröhre in der Kabine breit gemacht hatte, war auch in mein Gedächtnis gedrungen und hatte sich dort hartnäckig festgesetzt. Wie ein Tuch überdeckte sie all das, was ich unmittelbar vor – und womöglich auch während? – der Ohnmacht gedacht hatte.
Ich war froh, als ich das künstliche Licht der Aufzugskabine verlassen konnte und endlich vor dem Eingang des Möbelhauses angekommen war, der jetzt im warmen Abendlicht lag. Die breite, mit grauen Steinplatten gedeckte Front, schien aus ihrem Inneren heraus zu Glühen.
Es schien so, als konnte dieses volle, warme Licht sogar den fahlen Abklang der Panik vertreiben, der mir immer noch auf der Brust lag. Je mehr ich es versuchte, sie hervorzuholen, desto verschwommener wurde die Erinnerung an die Geschehnisse in der Tiefgarage und in der Aufzugskabine.