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Forum > Community > Art Board > [Neues Großprojekt] Möbelhaus
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41 Beiträge
Letzter Beitrag Seiten (3):  [1] 2 3 »


Autor Beitrag
# 1
Lamarr  (33)
Nachricht offline
Ichthyosaur
10.036 Punkte
Dabei seit: 28.11.2004
2.897 Beiträge
[Neues Großprojekt] Möbelhaus
Vor rund zwei Jahren schrieb ich über eine Dauer von guten sechs Monaten an der Geschichte "Alfred und die Abluft", die in diesem Forum viele Leser und zu meiner Freude auch regen anklang fand.
Weil ich immer weniger Zeit hatte kam ich, abgesehen von sehr kleinen Stücken, kaum noch zum Schreiben. Doch jetzt, zwei Wochen, nachdem ich mein Abiturzeugnis bekam, kann ich mich endlich wieder einer größeren Sache widmen. Einer dunklen Sache.
Ich hoffe, dass diese Geschichte euch genauso in den Bahnn zieht wie Alfred, und dass es genauso gut vorwärts geht. Der Start war jedenfalls fulminant, die ersten drei Seiten, die Ihr im Folgenden lesen könnt, flossen nur so aus den Fingern.
Viel Spaß und gebt mir Feedback! :cool:
PS: "Möbelhaus" ist vorerst ein Arbeitstitel, der sich im Laufe des Schreibens noch ändern kann.

Der aktuelle Stand der Geschichte findet sich immer in diesem ersten Post.
01.08.10 - Bei einer Durchsicht habe ich viele Schreibfehler beseitigt.
22.08.10 - Die zehnte Wordseite ist überschritten.




Möbelhaus


An einem Sommerabend, der überaus warm und stickig war, traf ich die spontane Entscheidung, kurz vor Ladenschluss noch zum Möbelhaus zu fahren. Schon seit geraumer Zeit hegte ich das Vorhaben, mich nach einem neuen Couchtisch für das Wohnzimmer umzusehen, doch aufgrund meiner überaus zeitaufwändigen beruflichen Verpflichtung als Anlageberater war es nie dazu gekommen.
Auch an jenem Abend hatte ich ursprünglich geplant, kurz nach sieben mit einem Geschäftsbekannten in einem Restaurant zu Abend zu essen, um ein Geschäft abzuschließen, dass ich bereits als in trockenen Tüchern ansah. Frei von Stress verweilte ich mich ein wenig vor dem Fernseher im Wohnzimmer, bis der Anruf kam: Kurz angebunden informierte mich der Herr, mit dem ich die für mich doch alles andere als unbedeutende Verabredung eingegangen war, dass aus dem geplanten Abendessen nun doch nichts würde. Als ob er meine unausgesprochenen Dünkel durch die Telefonleitung hin gespürt hätte, beteuerte er vor dem Abschluss des Gespräches mehrfach, ich müsse mir in keiner Weise sorgen machen und auch wenn das Essen nun nicht stattfände, ändere dies nichts an der von höherer Stelle getroffenen Entscheidung, dass der geschäftliche Beschluss, den zu besiegeln wir heute Abend gedacht hatten, rein rechtsformal bereits getroffen war. Höflich verabschiedete ich mich und konnte entgegen aller Vernunft jedoch nicht das seltsame Gefühl und den Ärger bei Seite schieben, den mir diese unerwartete Wendung brachte.
Rastlos ging ich eine Weile in meinem kleinen Wohnzimmer umher, wobei ich darauf achtete, eine gleichmäßige Kreisbahn zu beschreiben – eine Marotte von mir, die mich, selbst durch meine momentan herrschende Verärgerung und Unsicherheit hinweg – stets aufs neue amüsierte.
Dann geschah das, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass es weitaus verhängnisvoller sein sollte, als die Absage meines Geschäftsfreundes: Mein rastloser Blick fiel, gleich dem zielsuchenden Anvisieren eines Schützen, auf den Wohnzimmertisch, der mir schon so lange ein Dorn im Auge gewesen war: Eine Scheußlichkeit aus braunem Holz, dunkelgrün gefliest und mit spitzen, knorrigen Krallenfüßen ausgestattet, die sich regelrecht in den von mir so liebgewonnenen Teppich zu krallen schienen, wo sie bei jedem versehentlichen Verschieben neue Schrammen hinterließen. Obwohl dies völlig unvernünftig war, kanalisierte ich, ohne es wirklich zu wollen, all meinen aus dieser unerwarteten Wendung des Abends entstandenen Grimm auf den Wohnzimmertisch. Meine gleichmäßige Kreisbewegung war erstarrt und wie eine Statue stand ich, mit noch angewinkelten Armen, mitten im Wohnzimmer, in dem es schwül und heiß war, und stierte auf den Wohnzimmertisch, wie er dort in all seiner Hässlichkeit vor mir stand und diesen unerträglichen, unsichtbaren Mief spießbürgerlichen Kleinbürgertums verströmte, den ich schon seit so langer Zeit erfolglos abzuschütteln versucht hatte.
In diesem Moment fiel meine Entscheidung: Anstatt tatenlos den Rest des Abends in meinem Haus zu verbringen würde ich mich nun in mein Auto setzen und zu dem mir schon seit meiner Kindheit gut bekannten Möbelhaus Gastmann fahren, um endlich einen Nachfolger für diese abstoßende Ausgeburt fehlgeleiteten Geschmacks zu finden. Im Nachhinein betrachtet war diese Aktion für mich nur allzu typisch: Wenn ich etwas weniger ausstehen kann als unerwartete Änderungen, dann ist es Tatenlosigkeit. Wohl ist dies auch der Grund, wieso ich nun hier inmitten eines wachsenden Papierberges sitze und die Geschehnisse der vergangenen Stunden (Tage? Jahre?) zu Papier bringe. Stifte und Papier – das sind die Dinge, an denen es mir in meiner jetzigen Situation am wenigsten mangelt. Abgesehen von Zeit natürlich. Doch im Hinblick auf diese uns als selbstverständlich erscheinende Konstante will ich mich nur ungern äußern. Denn kann man es sich anmaßen, von einem Überfluss an Zeit zu sprechen, wenn die Zeit selbst verschwunden ist?
Als ich auf den Parkplatz des Möbelhauses einbog, war es Viertel nach Sieben – exakt die Uhrzeit, zur der ich mich im Restaurant „Le Printemps“ eingefunden hätte, wenn der Abend so verlaufen wäre, wie es von mir vorgesehen war. Ich war dort ein häufiger Gast, da ich, als alleine lebender Herr, selten die Motivation fand, mir zu Hause das Abendessen zuzubereiten. Doch noch mehr als das Essen war es die Herausragende Weinauswahl, die mich immer wieder von neuem in die ordentlichen, kultivierten Säle des „Le Printemps“ trieb.
Auch erfreute mich die mir dort entgegengebrachte Freundlichkeit des Personals – auch wenn sie selbstverständlich nur oberflächlicher Natur war – denn in meinem Metier begegnet man sich meistens reserviert und möglichst befreit von Emotionen.
Ich schüttelte diese Gedanken ab, sagte mir, dass es wahrlich keinen Grund zur Sorge gäbe und bog in die Tiefgarage, die unmittelbar unter dem Parkplatz des über die Jahre gewachsenen Möbelhauses lag. Hochkonzentriert dirigierte ich die Front meines langen Wagens durch die schmale Betongasse, die als Abfahrt in die unterirdische Parkstätte hinab führte, wobei ich den Mercedesstern als Peilmarke anvisierte. Bei derartigen Fahrmanövern stieg mein Herzschlag unweigerlich und ich bekam trotz jahrzehntelanger Fahrpraxis nicht selten feuchte Hände, denn mehr als alles andere waren mir Schäden an meinem Fahrzeug ein Greul.
Aus demselben Grunde nahm auch die Suche eines geeigneten Parkplatzes eine geraume Zeit in Anspruch, da ich prinzipiell mein Auto nur in diejenigen Parklücken stellte, die breit genug waren, um gefahrlos die langen Türen der großen Limousine zu öffnen.
Außer mir war niemand in der Tiefgarage, weswegen die Beleuchtung erst in jenem Moment flackernd zum Leben erwachte, als das Heck meines Autos im dunkeln Schlund der Einfahrt verschwunden war. Ich trat leicht auf die Bremse und blinzelte mit den Augen, da mich das an vielen Stellen zugleich aufblitzende Licht irritierte. Wenige Sekunden später war alles erleuchtet und selbst der letzte Rest von Dunkelheit vertrieben. Dieser Gedanke wirkte irgendwie tröstlich und beängstigend zugleich auf mich – entgegen jeder Vernunft drängte sich mir die bizarre Vorstellung auf, Dunkelheit könne sich wie ein lebendiges Wesen in einsamen, lange nicht besuchten Räumlichkeiten einnisten und festsetzen – sich vielleicht sogar vermehren. Ich schüttelte den Kopf und stellte fest, dass ich bei der Suche einer Parklücke keine großen Schwierigkeiten haben würde, da das komplette Parkhaus – ausgenommen von einem kleinen Lieferwagen, der zum Personal des Möbelhauses gehörte – vollständig leer war. Dies erstaunte mich, da der Parkplatz, selbst so kurz vor Ladenschluss, nach wie vor brechend voll gewesen war. Als jemand, der im Sommer alleine schon wegen des Schattens und der Kühle immer im Parkhaus parkte, war ich andere Verhältnisse gewöhnt: Üblicherweise war die Tiefgarage des Möbelhauses Gastmann ebenso voll wie der oberirdische Parkplatz.
Ich stellte meinen Wagen ab, betätige die elektronische Handbremse und stieg aus.
Mit einem Knopfdruck auf den Funkschlüssel verriegelte ich das Auto und setzte mich in Bewegung, in Richtung des Fahrstuhls, der am anderen Ende der Tiefgarage lag. Direkt neben ihm befand sich eine kurze Treppe, die ebenso nach oben führte, direkt vor die große Eingangsdrehtür, aber ich mied diese Treppe, da mir ihre schmutzige Feuchte und ihr moosiger Belag zuwider war.
Leise, aber dennoch deutlich vernehmbar knirschten die Ledersohlen meiner Schuhe auf dem von Ruß geschwärzten Betonboden und der Trittschall pflanzte sich durch die leere Tiefgarage fort, wie eine Donnerfront. Viel deutlicher als üblich wurde mir nun die schiere Größe des Parkhauses bewusst. Da ich es nun zum ersten Mal in meinem Leben nahezu komplett frei von anderen Fahrzeugen sah, kam es mir unweigerlich größer vor, beinahe unwirklich. Dieser Eindruck verstärkte sich zusehends, bis er mich – ungeachtet seiner Irrationalität – zum Innehalten brachte. Langsam drehte ich mich um und sah zu meinem Mercedes zurück. Trotz der grellen Beleuchtung schien er in einem Schatten zu stehen und außerdem schon weit, weit weg zu sein, obwohl ich erst wenige Meter gegangen war.
Ich runzelte die Stirn und schob die rechte Hand in meine Hosentasche, wo ich den Autoschlüssel umgriff, was mir stets ein beruhigendes Gefühl verschaffte.
Dann bemerkte ich ein leises, kaum wahrnehmbares Brummen, wie von einem herannahenden Insekt. Es war die Neonröhre über mir. Leicht zögerlich sah ich an die Decke hoch, wo über Jahrzehnte hinweg Kalkablagerungen gewachsen waren. Sie hatten eine kleine, von niemandem beachtete Mondlandschaft geschaffen, die dort an der Decke der Tiefgarage im Schutz der Dunkelheit und genährt von immerwährender Feuchte wuchs und wuchs.
Das Brummen der Neonröhre wirkte geradezu hypnotisch auf mich und ich konnte mich nicht aus meiner so plötzlich gekommenen Starrte lösen. Mit stockendem Atem sah ich, wie die Neonröhre zu flackern begann und mit einem Mal trüb wurde. Jetzt, wo das Grelle in ihr verschwunden war und nur als blendender, länglicher Wiederhall auf meiner Netzhaut zurück blieb, konnte ich die braunen, schmierigen Ablagerungen auf dem dünnen Glas erkennen. Auch hatte ich den Eindruck, im Inneren der Glasröhre würde sich etwas bewegen, etwas Längliches, Kriechendes, das sich als pechschwarzer Schemen gegen die fragile Rundung abzeichnete. Aber bevor ich diese Bewegung genauer wahrnehmen konnte, erlosch die Neonröhre ganz.
Erstarrt und atemlos stand ich nun in deinem neu geschaffenen See aus Dunkelheit, der mich innerlich in die Tiefe zog. Deutlich spürte ich, wie mir der Schweiß ausbrach. Mir wurde eiskalt, denn wie aus dem Nichts zog nun ein kühler Hauch durch die Tiefgarage und erzeugte dabei ein dissonantes Pfeifen. Irgendwo hinter mir, in einer verborgenen Ecke, löste sich ein Wassertropfen vom Gebirge, das allgegenwärtig und meistens unsichtbar dort über mir an der Decke hing. Der Tropfen fiel und traf – nach einer viel zu langen Zeitspanne erdrückender Stille – in eine Pfütze. Das Geräusch, das er dabei verursachte, erschien mir ungeheuer laut in der menschenleeren Tiefgarage und das Licht, dass nach wie vor um meine Insel aus Dunkelheit brandete, schien fahler zu werden und zurückzuweichen.
Endlich gelang es mir, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Mit zitternder Hand und hechelndem Atem wischte ich mir über meine von kaltem Schweiß bedeckte Stirn und setzte mich endlich wieder in Bewegung. Nur mit äußerster Vernunft konnte ich mich dazu zwingen, nicht in Richtung des Aufzuges zu rennen.
Was war nur geschehen?
Erneut schüttelte ich den Kopf - diesmal heftiger - und griff mit dann mit beiden Händen fest an die Schläfen, während ich mit schnellen Schritten auf den Aufzug zuhielt. So sehr ich mich auch bemühte, die unerklärliche Panik, die nun seit wenigen Minuten von mir Besitz ergriffen hatte, ließ sich nicht ohne Weiteres abschütteln. Der Aufzug, der mir sonst kaum aufgefallen war, schien mir nun ebenfalls ein gewisses Unbehagen zu bereiten: Seine dunkelroten, mit Filzstift beschmierten Türen erschienen mir erdrückend schwer und ich scheute mich regelrecht, den Rufknopf zu drücken. Natürlich tat ich es trotzdem; nicht ohne danach die Finger an meiner Anzugshose abzureiben, als hätte ich sie an dem bräunlichen Plastik beschmutzt. Der Knopf glomm bräunlich-hell auf und mit einem dunkel grummeln setzte sich der Aufzug über mir in Bewegung. Nur Sekunden später glitt die Tür vor mir auf und ich trat ein. Sowie sich die Türen geschlossen hatten, begann mein Herz wieder wie wild zu schlagen. Ich seufzte laut vernehmlich und sah zur Decke des Aufzuges, wo ebenfalls eine Neonröhre grelles Licht verbreitete. Ich sah direkt in den weißen Balken hinein und nahm bereitwillig in Kauf, wie sich sein Umriss in meine Netzhaut einbrannte. Als ich die Augen schloss sah ich dir Röhre in wilden Farben pulsieren, vor tiefschwarzem Hintergrund.
Dann wurde mir bewusst, dass ich noch nicht auf den Knopf für das Erdgeschoss gedrückt hatte. Ein wenig verärgert über mich selbst senkte ich den Kopf und öffnete ruckartig die Augen, wobei im Sichtfeld wie erwartet der Umriss der Neonröhre tanzte. ich hob den Zeigefinger und führte ihn zur Wand des Aufzuges – doch alle Knöpfe waren verschwunden.
Verblüfft und irritiert stieß ich den Atem aus und war wir erstarrt. Innerlich krampften sich meine Eingeweide zusammen vor Angst, im selben Moment, in dem mir klar wurde, dass ich zur falschen Seite sah. Mit noch größerem Ärger über mich selbst und meine kindische Angst drehte ich mich um zur anderen Seitenwand des Aufzuges, wo sich selbstverständlich die beiden mir bekannten Knöpfe fanden: E und U, schwarz auf rundem Plastik, eingelassen in eine Platte aus gebürstetem Metall. Energisch drückte ich auf E, worauf sich der Aufzug sogleich in Bewegung setzte.
Als hätte ich eine große Aufgabe gemeistert, ließ ich mich seufzend an die Metallwand sinken und atmete aus. Mit kribbelnden Fingerspitzen trommelte ich einen Rhythmus an das Geländer, das auf Hüfthöhe wie eine eckige Schlange an den Innenwänden der Aufzugskabine entlanglief. Ein weiteres Mal schloss ich die Augen und atmete tief und aus. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Endlich legte sich die Panik. Welche Panik, sagte ich mir? Was sollte ich für Gründe haben, panisch zu sein? Welche? Ich zuckte mit den Schultern und hob die Hände zu einer fragenden Geste, als hätte ich meine Gedanken gerade laut ausgesprochen und wollte ihnen, einem imaginären Gesprächspartner gegenüber, mehr Ausdruck verleihen.
Während der Aufzug dabei war, die wenigen Meter zwischen Tiefgarage und oberirdischem Parkplatz zu überbrücken, wandte ich meine Gedanken der Sache zu, wegen der ich überhaupt zum Möbelhaus gefahren war: Der Erwerb eines neuen Couchtisches. Angestrengt überlegte ich, wann ich das letzte Mal im Möbelhaus Gastmann gewesen war. Es musste lange her sein, denn auf Anhieb konnte ich mich nicht erinnern. Ich runzelte die Stirn.
Dann fiel mir ein kurzer Besuch ein, der sich im Dezember des vorletzten Jahres zugetragen hatte. Dort war ich an einem düsteren Abend zum Möbelhaus gefahren, um ein Geschenk für meine Stiefmutter zu kaufen, von der ich wusste, dass sie einen Faible für lächerliche Katzenfiguren und ähnlichen Kitsch hegte. Zufällig hatte ich wenige Tage vorher in einer Werbebroschüre des Möbelhauses, welche mir aus der Tageszeitung entgegen geflattert war, genau eine derartige Porzellanfigur gesehen, von der ich sofort dachte, dass sie meiner Stiefmutter wohl gefallen würde, sodass ich als praktisch-rational denkender Mensch nicht umhin kam, die Gelegenheit zum Erwerb des wirklich passenden Geschenkes zu nutzen, obwohl mir ebendieses in höchstem Maße zuwider war. Nur einen knappen Monaten später erreichte mich eines Morgens per Telefon die Nachricht, dass meine Stiefmutter an einem Herzanfall verstorben war und groteskerweise war das erste, woran ich dachte, die an jenem Tag gekaufte Katzenfigur. Dieses unsagbar scheußliche Porzellanmachwerk, das eine orangene Katze mit spitzem Kopf und überdimensional großen Augen zeigte. Am Telefon schoss mir mit einem Mal Gedanke durch den Kopf, dass dies selbst für meine in Sachen Kitsch und schlechtem Geschmack bestens geschulte Stiefmutter zu viel gewesen sein könnte und ich musste mit aller Macht verhindern, am Telefon in hysterisches Lachen auszubrechen.
Doch jetzt, wo mir dieser Besuch wieder gegenwärtig war, wuchs die Sicherheit, dass dies nicht der letzte gewesen sein konnte. Zwischen dem Dezember des vorletzten Jahres und jetzt war ich definitiv öfters hier gewesen – nur wann? Und zu welchen Gelegenheiten?
All diese Überlegungen fanden ein jähes Ende, als der Aufzug mit einem scharfen Ruck zum Stillstand kam und die Neonröhre in der Kabine nach einem kurzen Flackern erlosch.
Ich war alleine, in einer engen Zelle aus erdrückender Dunkelheit.
Das Einzige, was ich jetzt noch hörte, war mein stetig lauter werdendes Atmen. Mit verschwitzten und zittrigen Händen hielt ich das Metallgeländer umklammert und hörte mich selbst japsen wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezerrt hatte.
Der Rufknopf, sagte ich mir, der Rufknopf. Es musste einen geben, das ist Vorschrift. Vorschrift, Vorschrift, Vorschrift, hallte es wie ein Mantra in meinem Kopf und ich konnte mich überwinden, die Hände langsam von dem kalten Eisengeländer zu lösen, um sie dann tastend vor mein Gesicht zu heben. Dann streckte sich sie weiter aus, in der Erwartung, die metallene Wand der Kabine zu berühren, doch es geschah nicht. Übelkeitserregende Panik legte sich auf meine Brust und presste mir die Luft aus den Lungen – ich ruderte mit den Armen aber traf auf keinen Widerstand. Mit zögerlichen Schritten begann ich langsam im Kreis zu laufen, wie ich es vor einer gefühlten Ewigkeit in meinem Wohnzimmer getan hatte. Doch gänzlich war nun die Sicherheit verschwunden, die mir diese Tätigkeit normalerweise verschaffte; vom Gefühl der Kontrolle und der Beruhigung war nun nichts mehr übrig.
Unweigerlich kam ich von der Bahn meines Kreises ab und flog in die formlose Dunkelheit hinaus, die in der Aufzugskabine entstanden war und die sich zweifellos weit über ihre Grenzen hinaus ausgedehnt hatte – wie sonst war es möglich, dass ich trotz meiner hektischen Bewegungen auf keinen Widerstand traf? Weit streckte ich die Arme vor mir aus, wie ein Schlafwandelnder und lief vorsichtig geradeaus, Schritt für Schritt.
Ich nahm alle Selbstbeherrschung zusammen, die ich in diesem aufrechten Sarg aus Metall in mir finden konnte und begann meine Schritte zu zählen.
Eins.
Zwei.
Drei.
Vier.
Fünf.
Sechs.
Ich erstarrte.
Es war unmöglich. Ich war mir absolut sicher, dass beim Einsteigen gerade einmal drei kurze Schritte genügt hatten, um die der Aufzugstür gegenüberliegende Wand zu erreichen und so die gesamte Länge der Kabine zu durchmessen. Und nun war ich schon ganze sechs Schritte durch die Dunkelheit gegangen, ohne auf jene Wand zu treffen. Gelähmt vor Angst blieb ich stehen und traute mich nicht, eine weitere Bewegung auszuführen. Der Drang zu Rennen war stark, aber wäre das nicht töricht? Insgeheim ahnte ich, dass ich durch den mir bekannten Raum in eine finstere Unendlichkeit geglitten war, in der ich Äonen hätte rennen können, ohne auf eine Wand zu stoßen, aber wollte ich mir den Beweis dazu selbst erbringen, endgültig und unwiderlegbar?
Nein, sagte ich mir bestimmt, es darf nicht sein, was nicht sein kann.
Mit zögerlicher Stimme begann ich in die Dunkelheit zu flüstern:
„Der Raum ist ein dreidimensionales Gebilde, welches in seiner Ausdehnung durch Länge, Breite und Höhe definiert wird. Diese Kabine kann ihre Maße nicht verändern. Sie ist fest. Der Raum ist fest.“
„Der Raum ist fest!“, sagte ich noch einmal, diesmal lauter – so laut, dass ich hören konnte, wie meine Stimme in der Ferne widerhallte, als stünde ich in einer großen, menschenleeren Kathedrale.
„Oh mein Gott.“, hörte ich mich selbst von weitem flüstern und wurde dann bewusstlos.


Anders als sonst muss ich mich auf die Mathematikhausaufgaben konzentrieren – das ist ungewöhnlich, es macht mich geradezu wütend. Denn Mathematik macht mir keine Probleme; ich konnte schon rechnen, bevor ich lesen und schreiben konnte.
Doch heute ist es anders: Nur mit vollster Anstrengung kann ich meine Gedanken zusammenhalten und mich auf die Zahlen fokussieren. Dennoch verschwimmen sie in Gedanken immer wieder von neuem. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert.
Ich bekomme Angst.
Stumm und starr sitze ich an dem kleinen Holztisch, den ich zum elften Geburtstag bekomme hatte, als ich – wie erwartet – auf das Gymnasium übertrat. Hinter mir ist eine weiße, leere Wand, so leer wie mein Zimmer, so leer wie ich.
Bis auf die schwere Holztür, die vor einigen Augenblicken aus dem Nichts erschienen ist. Wenn ich meine Aufgaben erledige, geschieht das hin und wieder. Es ist keine Absicht.
Ich weiß mittlerweile, dass mir nichts passieren kann, wenn ich nicht hindurchgehe, aber das Unbehagen lässt sich nicht abschütteln und es beeinträchtigt meine Konzentrationsfähigkeit erheblich.
Ich fasse allen meinen Mut zusammen, und setze dazu an, mich auf meinem Holzschemel umzudrehen. Letztendlich gewinnt die Neugierde immer.
Gerade in dem Moment, als ich es tun will, schneidet sich die barsche Stimme meiner Stiefmutter durch die Luft. Mit bleichem Gesicht starre ich sie an und die Panik wird stärker.
„Was ist Jakob? Siehst du wieder Türen?“ Spöttisch schüttelt sie den Kopf und verlässt mein kleines Zimmer.
Ruckartig drehe ich mich um und balle die Faust. Die Tür ist verschwunden.


Grelles, flackerndes Licht. Ein Rumpeln. Ich wurde durchgeschüttelt. Benommen öffnete ich die Augen. Wo war ich? Die Aufzugskabine, fiel es mir ein. Ich war stecken geblieben. Und ohnmächtig geworden!
Gerade hatte sich die Aufzugskabine wieder in Bewegung gesetzt, wodurch ich wohl wieder zu Bewusstsein gekommen war und langsam erlangte ich meine Fassung wieder zurück. Ich rechnete fest damit, dass das Möbelhaus nun geschlossen haben würde, schließlich war ich mindestens eine Viertelstunde bewusstlos gewesen, das hatte ich einfach im Gefühl. Doch als ich einen Blick auf meine Armbanduhr warf, stellte ich erfreut fest, dass seit meiner Ankunft im Parkhaus gerade einmal zehn Minuten vergangen waren. Ich würde also noch genug Zeit haben, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen und wenigstens einmal das Angebot an Couchtischen zu sichten. Andererseits kam es mir beinahe unglaublich vor, dass sich die tatsächlich vergangene Zeitspanne so signifikant von der gefühlten unterschied, wo ich doch üblicherweise verstrichene Zeit auf die Minute genau schätzen konnte.
Doch noch viel wichtiger: Was war überhaupt geschehen? Erschreckt stellte ich fest, dass ich von den Geschehnissen in der Aufzugskabine, die in diesem Moment zum Stillstand kam, worauf sich die Türen langsam öffneten, kaum noch etwas wusste. Die Schwärze, die sich nach dem plötzlichen Erlöschen der Neonröhre in der Kabine breit gemacht hatte, war auch in mein Gedächtnis gedrungen und hatte sich dort hartnäckig festgesetzt. Wie ein Tuch überdeckte sie all das, was ich unmittelbar vor – und womöglich auch während? – der Ohnmacht gedacht hatte.
Ich war froh, als ich das künstliche Licht der Aufzugskabine verlassen konnte und endlich vor dem Eingang des Möbelhauses angekommen war, der jetzt im warmen Abendlicht lag. Die breite, mit grauen Steinplatten gedeckte Front, schien aus ihrem Inneren heraus zu Glühen.
Es schien so, als konnte dieses volle, warme Licht sogar den fahlen Abklang der Panik vertreiben, der mir immer noch auf der Brust lag. Je mehr ich es versuchte, sie hervorzuholen, desto verschwommener wurde die Erinnerung an die Geschehnisse in der Tiefgarage und in der Aufzugskabine.
Als ich auf die Drehtür zulief, entging mir nicht, dass mich manche Leute etwas verwundert ansahen. Zweifelsohne war ich blass und verschwitzt; ich fühlte mich sogar ein wenig wackelig auf den Beinen. Innerlich gab ich mir einen Ruck und schwor mir, dass es ab nun endgültig genug sein musste mit diesen eigentümlichen Schwächeleien. Als ich über die Geschehnisse der letzten Minuten nachdachte, wurde ich sogar zunehmend wütend auf mich selbst. Ein Ohnmachtsanfall, ganz ohne Grund. So etwas hatte mir nicht zu passieren. Ich war als gestandener und durchaus erfolgreicher Geschäftsmann schon mit ganz anderen Problemen konfrontiert worden als mit einem stecken gebliebenen Aufzug. Ganz zu schweigen von meiner Jugend, die wahrlich nicht leicht gewesen war und an die ich ungerne zurückdachte. Aber, dachte ich im Bezug auf dieses Kapitel meines Lebens, nicht ohne einen gewissen Stolz, es hat mich hart gemacht und nur darauf kam es letztlich an.
Die Steinplatten der Fassade wichen verspiegeltem Glas, welches direkt an die Drehtür angrenzte, aus der sich ein unstetiger Strom an Menschen ergoss, die das Möbelhaus verließen. Leicht amüsiert dachte ich, dass mir schon zu verschiedenen Gelegenheiten aufgefallen war, dass viele Menschen wohl insgeheim eine gewisse Furcht davor hegten, in der letzten halben Stunde vor Ladenschluss noch ein Geschäft zu betreten, insbesondere, wenn es sich um ein so großes handelte, wie das Möbelhaus Gastmann. War es die Angst, der letzte zu sein, der kam? Oder – noch schlimmer – der letzte, der ging? Was auch immer dahinter steckte, es war selbstverständlich lächerlich.
In den Kammern der automatischen Drehtür, welche in ihrer Mitte eine momentan leere Dekorationsauslage beherbergte, lag eine schwere, warme Luft. Ihre schwüle Feuchte setzte mir ungemein zu, trotz der nur kurzen Zeitspanne, die ich in der Drehtür zubrachte und ich war froh, als ich das klimatisierte Atrium des Möbelhauses betreten konnte. Zu meiner linken waren fünf Kassenschalter, an denen lange Schlangen von Leuten anstanden, die verschiedenste Artikel unter dem Arm oder in ihren Einkaufswägen und Möbelkarren hatten.
Großfamilien mit nörgelnden Kindern und Hunden nebst komplett in Beige oder Schiefergrau gekleideten Rentnerehepaaren gaben ein amüsantes Potpourri ab, wie es nur das Leben selbst zeichnen kann. Ich sah mein fahles Spiegelbild auf der Glastür des zentralen Aufzuges, welcher das Atrium mit den vielen Stockwerken des Möbelhauses verband und dachte, dass ich hier wie ein Fremdkörper wirken musste – im schwarzen Anzug, mit Krawatte.
Ich drehte den Kopf nach rechts, wo wenige Meter entfernt der Informationsschalter war, an dem eine in das stechende Rot der Möbelhausangestellten gekleidete Empfangsdame gelangweilt den Rest ihrer Schicht absaß. Unfreiwillig taxierte ich sie, was sie auch sogleich bemerkte. Sie zuckte in ihrem schiefen Drehstuhl zusammen, setzte sich gerade hin und ließ ein künstlich wirkendes Lächeln aufblitzen. Vermutlich, dachte ich innerlich in mich hinein lachend, hielt sie mich wegen meiner förmlichen Kleidung für einen höheren Angestellten aus der Geschäftsleitung des Möbelhauses.
Ich wandte mich ab und ging über den dunklen Marmorboden auf die Treppe zu, die sich direkt rechts neben dem Glasaufzug befand, den ich trotz aller Vernunft wahrlich nicht zu nutzen gedachte. Obwohl es mir nicht gelungen war, mit Sicherheit festzustellen, wann ich das letzte Mal im Möbelhaus Gastmann gewesen war, wusste ich dass es Couchtische im dritten Obergeschoss gab. Mit flinken Schritten arbeitete ich mich die Treppe empor, von der aus man en Passant Einblicke in jede Ebene des Möbelhauses gewinnen konnte, bis ich im dritten Obergeschoss angelangt war. Gerade als ich meinen Fuß auf die letzte Stufe gesetzt hatte, drang aus den allgegenwärtigen Lautsprechern eine freundliche Ansagerinnenstimme, die mitteilte, dass das Möbelhaus Gastmann um zwanzig Uhr schließe und man sich recht herzlich für den Einkauf bedanke. Darüber hinaus hoffe man, die Kundschaft morgen ab neun Uhr wieder begrüßen zu dürfen.
Die letzte halbe Stunde war also angebrochen, was ich mir mit einem Blick auf meine Armbanduhr bestätigte. Ich stand am Kopf der Treppe, die ich empor gestiegen war und ließ meinen Blick durch das inzwischen schon menschenleere dritte Obergeschoss schweifen. Eine Hinweistafel sagte aus, dass es auf dieser Ebene ausschließlich „Couchtische, Couchmöbel, Fernsehsessel, Sitz/Liegekombinationen, TV-Schränke“ zu betrachten gab. Nun, wie erwartet war ich also richtig. Von der Hinweistafel fiel mein Blick auf den Teppichboden. Irgendwie faszinierte er mich. Das Muster. Kleine, schwarze-weiße Karos; ein feines, altes, teilweise ausgetretenes und schon leicht bräunlich gewordenes Schachbrettmuster, das wie eine surreale Straße vorbei an langen Reihen von Möbeln und Wohnzimmerkombinationen führte. Je weiter man dem Muster man mit dem Auge folgte, desto mehr verschwamm es zu grauem Brei. Schwarz und Weiß wird zu Grau. Ein Schachbrettmuster. Schach. Schwarz und Weiß.
Grau.
Schachmatt.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes, mein Herr?“
Tief erschrocken fuhr ich herum, zu der Stimme, die mich jäh aus meinen Gedanken gerissen hatte. Welche Gedanken? Ich hatte es vergessen. Es fiel mir schwer, mich zu artikulieren.
„Ich. Ja. Ich… suche einen Couchtisch. Am besten wäre etwas in dunkelbraunem Holz und ohne Fliesen. Ein wenig modern im Aussehen und keine allzu breiten Füße.“ Ich war erleichtert, wie schnell ich meine gewohnte Sprache wieder fand.
Der Angestellte, ein junger Mann mit osmanisch geprägten Zügen und schwarzem Haar, sah mich leicht verwundert, doch dann zunehmend freundlich an.
„Wir haben hier oben natürlich eine große Auswahl an Couchtischen. Wenn Sie allerdings speziell etwas in Dunkelbraun suchen, sollten Sie mal ins Kellergeschoss gehen, in unsere Möbel-SB Abteilung. Da ist gerade ein Tisch im Sonderangebot, der Ihrer Beschreibung ziemlich genau entspricht. Wollen Sie sich vielleicht erst einmal selbst umschauen?“
Ich merkte dem Mitarbeiter an, dass er, angesichts des unmittelbar bevorstehenden Feierabends keine ausgedehnten Kundengespräche mehr beginnen wollte und dass es ihm lieber war, wenn ich mich auf eigene Faust umsähe. Deswegen stimmte ich seinem Vorschlag vollmundig zu und begann, ein wenig ziellos durch die Abteilung zu laufen.
Seit meinem letzten Besuch hatte sich einiges verändert. Ich hatte das Gefühl, dass die Aufteilung der Verkaufsfläche bei Weitem nicht mehr so übersichtlich gestaltet war, wie früher. Neben der „Teppichhauptstraße“, ein langes Band aus kleinen, schwarzen und weißen Karos, befanden sich zahlreiche, kleine, durch schmale Wände abgetrennte Präsentationsflächen, in denen mit farblich aufeinander abgestimmten Möbeln Wohnzimmer eingerichtet waren. Neben den auf kleinem Raum zusammengedrängten Sofas, Tischen und Stühlen gab es auch Bücherregale mit den obligatorischen Buchrückenattrappen sowie breite Pappfernseher, die auf den Fernsehtischen standen, um dem Kunden einen realitätsnahen Eindruck des Möbelstückes geben zu können.
Diese kleinen „Attrappenwohnzimmer“, wie ich sie für mich persönlich getauft hatte, faszinierten mich auf eigentümliche Art und Weise. Alles war hell erleuchtet, peinlich sauber, stimmig eingerichtet aber trotzdem menschenleer und seelenlos. Ich ging an einem Ehepaar vorüber, das vor einem Zimmer stand, welches eine als besonders modern ausgewiesene Kombination weißer Lackmöbel zeigte. Die Möbelstücke sahen unter dem grellen Licht der Halogenlampen, welche an einer tief hängenden Attrappendecke angebracht waren, beinahe unerträglich weiß aus; der Anblick schmerzte mir in den Augen.
Immer wieder zweigte die Teppichstraße nach links und rechts ab, sodass ich mir regelrecht vorkam wie in einem Labyrinth. Kurz blieb ich stehen und drehte mich um. Sowohl das Ehepaar als auch der Verkäufer waren nicht mehr zu sehen; auch Stimmen hörte ich keine mehr. Nur die einschläfernde Kaufhausmusik rieselte unablässig aus vielen, unsichtbaren Lautsprechern auf mich herab. Ich setzte mich wieder in Bewegung, konnte aber spontan keinen Tisch entdecken, der mir auch nur ansatzweise gefiel. Entweder waren die ausgestellten Möbel genauso altmodisch und spießbürgerlich, wie ein Großteil meiner eigenen Einrichtung, oder wiederum so modern und schlicht, dass ich keinen Gefallen daran finden konnte. Ich bemerkte zu meiner linken eine Abzweigung an der eine Hinweistafel stand, die eine Übersicht bot, was es alles auf diesem Stockwerk zu sehen gab. Außerdem wies ein roter Pfeil auf eine nur wenige Meter entfernte, ebenfalls zu meiner Linken liegende Treppe, die dieses Stockwerk anscheinend mit allen darunterliegenden verband. Wohlgemerkt handelte es sich nicht um die große Haupttreppe, über die ich hinaufgelangt war, sondern offenbar eher um eine Fluchttreppe, die wohl wegen ihrer unscheinbaren Präsenz oftmals übersehen wurde. Bei genauerem Hinsehen passte der rote Richtungspfeil nicht so recht zum Rest der Hinweistafel: Während alle anderen Schriftzüge neu und scharf aussahen, war das Klebepfeil schon etwas blass geworden und begann sich an den Rändern abzuschälen – als wäre er lange Zeit großer Hitze ausgesetzt gewesen. Ich runzelte die Stirn und ging dann, ohne weiter über etwas derart Unwichtiges nachzudenken, auf die unscheinbare, schmale Treppe zu.
Ihre Bauweise glich der der großen Haupttreppe, nur in deutlich kleinerem Maßstab:
Wie ich bereits von meiner aktuellen Position neben dem Geländer sehen konnte, verband sie dieses Stockwerk mit den darunter liegenden, wobei man auf der Treppe selbst, wie in einem Treppenhaus, durch einen schmalen, rechteckigen Schacht, welcher in seiner Ausdehnung durch die Geländer begrenzt wurde, in die Tiefe sehen konnte – bis auf den weit entfernten, dunklen Boden, welcher zum Kellergeschoss gehörte, in das ich zu gehen beabsichtigte.
Ganz offensichtlich war diese Treppe älter als der umliegende Teil des Stockwerks, denn sowohl das Eisengeländer, von dem der braune Lack in großen Placken abblätterte und so einen älteren, scheußlich türkisfarbenen Anstrich freilegte, als auch die Stufen machten einen schäbigen Eindruck. Es war nicht unüblich, dass in Möbelhäusern oftmals nur die Bereiche renoviert wurden, die dem Kunden direkt ins Auge fielen: Die Fassade, der Parkplatz, der Eingangsbereich und natürlich die Ausstellungsfläche. Neben diesem beständigen, immer frisch gehaltenen Glanz gab es jedoch auch kleine, schmutzige Flecken auf der Landkarte dieses Konsumparadieses: Flecken, über die man ohne Weiteres hinwegsehen konnte und die man möglicherweise nur durch Zufall entdeckte, wie es mir gerade passiert war.
Die Stufen der Treppe waren aus dunklem Holz, das deutlich sichtbar ausgetreten war. Es erschien mir gut denkbar, dass sie noch aus einer Zeit stammten, als das Möbelhaus Gastmann gerade erst eröffnet hatte – was etwas heißen wollte, denn dieses Unternehmen wurde bereits in der zweiten Generation geführt und hatte bereits in anderen Städten kleinere Möbelhäuser eröffnet.
Ich runzelte die Stirn und sah noch genauer auf die Stufen. Lag dort tatsächlich Staub?
Das erschien mir doch sehr unwahrscheinlich. Ich sagte mir, dass es wohl an der Beleuchtung liegen musste, denn im Bereich dieser kleinen Treppe herrschte nur ein fahler Abglanz des sonst so allgegenwärtigen, blendenden Lichtes. Dann begann ich, mit zögerlichen Schritten die Treppe hinabzuschreiten, was eine gewisse Vorsicht erforderte, da die Stufen äußerst kurz waren und auf eine eigentümliche Art, die man so nur von sehr alten Holzstiegen kannte, äußerst rutschig waren. Als ich wenige Stufen gegangen war und sich mein Kopf auf der Höhe des Bodens des dritten Stocks befand, den zu verlassen ich nun gerade im Begriff war, machte ich eine seltsame Entdeckung: Das, was ich bisher für die Außenwand des Möbelhauses gehalten hatte, diese saubere, von einer Raufasertapete eingekleidete Fläche, welche nach oben hin ihren Abschluss in der tiefer gehängten Scheindecke fand, war ebenso wie die Fernsehgeräte und Bücher nichts weiter als eine Attrappe. Bei der scheinbaren Wand handelte es sich lediglich um eine dünne Rigipsplatte, die durch die Tapete und die zahlreichen Bilder und Werbeplakate den nichtsahnenden Betrachter in die Irre führte. Von meinem Standort aus konnte ich hinter diese Fassade sehen und so in den Zwischenraum zwischen scheinbarer und tatsächlicher Außenwand blicken. Er lag dort gänzlich unbeachtet und unbeleuchtet – das einzige Licht kam von fernen Ritzen in den Rigipsplatten, durch die die Beleuchtung des Verkaufsraums fiel. Selbst aus weiter Entfernung konnte ich sehen, wie in diesen schmalen, gelblichen Einschnitten aus Licht unzählige Staubflocken tanzten. Wann hatte man wohl zum letzten Mal in diesem Zwischenraum für Ordnung gesorgt?
Nun, da ich schon einige Momente durch jenen Spalt in diese abgestandene Dunkelheit blickte und sich meine Augen langsam an das fahle Licht gewöhnten, konnte ich sehen, dass dort auch Möbel standen. Alte und teilweise offensichtlich kaputte, ausrangierte Möbel. Ich erkannte einen Nierentisch dem ein Bein fehlte, sowie ein Sofa, dessen Bezug aufgeschlitzt war, sodass aus den Schnitten die Füllung hervorquoll, wie die Gedärme eines angefahrenen Tieres. Ich schluckte, als mir die schiere Länge dieses Zwischenraums gewahr wurde: Ich konnte nicht bis zu der Ecke sehen, wo zwei der vier Außenwände aufeinandertrafen, sondern nur in eine pechschwarze Dunkelheit, in der sich gleichsam meines Blickes auch das spärliche Licht verlor, das durch die Ritzen drang.
Just in dem Moment, als ich den Kopf zur Seite drehte und weitergehen wollte, um das Hinabsteigen der Treppe fortzusetzen, erkannte ich eine Bewegung in der Schwärze – ein Schemen, der aus der Dunkelheit in den entferntesten aller Lichtstrahlen trat und so die Staubflocken durcheinanderwirbeln ließ.
Mit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen sah ich auf meine Füße, welche wegen der dunkeln Lederschuhe kaum auf den Holzstufen zu erkennen waren. Hatte ich das tatsächlich gesehen?
Hatte ich das tatsächlich gesehen? Ich spürte, dass mir ein wenig schwindlig wurde – bei Weitem nicht zum ersten Mal an diesem seltsamen Tag, wie ich mir dachte.
Rasch setzte ich meinen Abstieg fort und sah dabei konzentriert auf meine Füße, die mit leisem Absatzgeräusch von Treppenstufe zu Treppenstufe flogen. Spontan fiel mir ein, dass diese Angewohnheit – beim Herabsteigen einer Treppe auf die Füße zu sehen – aus meiner Kindheit stammte. Damals hatte ich mehrere derartiger Gewohnheiten gehabt, um in einer Stresssituation zur Ruhe zu kommen. Dazu hatte beispielsweise auch das abwechselnde Einknicken des rechten und linken Daumens gehört oder das langsame, dreimalige Ballen der Fäuste, wie mir gerade wieder einfiel. Plötzlich sah ich mich selbst im Alter von neun oder zehn Jahren vor meinem inneren Auge, in beängstigender Klarheit. Alleine, auf einem mit schummrigen Licht erleuchteten Flur stehend, dessen Wände ganz und gar von dunklem, polierten Holz ausgekleidet sind. Aber warum? Während ich die Treppe hinunterrannte, runzelte ich die Stirn. Ich-
Das Bild zerplatze mit einem Mal, wie eine Seifenblase, denn ich stolperte. Beinahe wäre ich gestürzt, doch meine Füße fanden auf rauem Betonboden halt. In Gedanken versunken war mir entgangen, dass ich das Ende der Treppe gerade erreicht hatte und so fast gestürzt wäre.
Mit klopfendem Herzen sah ich vom Boden auf. Hier war ich nun – im Untergeschoss des Möbelhauses, auch genannt „Möbel-SB“ für „Möbelselbstbedienung“, denn viele der hier ausgestellten Möbel waren direkt als Bausatz, platzsparend in einem Karton verpackt, zum Mitnehmen bereitgestellt. In hohen Regalen türmten sich diese dunkelbraunen Kisten, deren kubische Sachlichkeit rein gar nichts mit den „frischen Wohnideen für jedermann“ gemein zu haben schien, die einem die Werbeprospekte versprachen. Für einen kurzen Moment fand ich die Szenerie ein wenig bizarr, denn mir war, als wäre jedes dieser Möbelstücke vor mir ein lebendiges Wesen, das um meine Aufmerksamkeit buhlte, und innbrünstig hoffte, endlich von diesem tristen Ort fortgetragen zu werden. Ich lachte leise, zum ersten Mal an diesem Tag, und dachte mir, dass ich diesen Wunsch – eventuell! – wohl nur dem gesuchten Couchtisch erfüllen können würde. Beim Klang meines Lachens lief mir unweigerlich ein Schauer über den Rücken. Ich hörte Schritte auf der Treppe hinter mir und drehte mich sogleich um. Niemand war dort. Was war nur los mit mir? Ich war zweifellos ein wenig verwirrt, was wohl daran lag, dass ich über die kleine, unscheinbare Treppe, die ich soeben hinuntergegangen war, in einen Bereich des Untergeschosses gelangt war, den ich vorher noch nie betreten hatte. Ich war mir sicher, zum ersten Mal hier unten zu sein, obwohl ich das Möbelhaus Gastmann schon so viele Jahre kannte und auf eine seltsame, subtile Art und Weise fand ich die vor mir liegende Szenerie sogar ein wenig beunruhigend – was natürlich vollkommen absurd war.
Nüchtern betrachtet gab es hier nichts Absonderliches zu sehen: Auf dem schmutzigen Betonboden, der mir so unerwartet Halt gegeben hatte, standen zahlreiche Möbelstücke, jedoch ohne erkennbares System. Viele von ihnen waren offenbar Ausstellungsstücke, denn an ihnen prangten noch Schilder, die in grellen, aber mittlerweile blass gewordenen Farben und fetter Schrift „SONDERANGEBOT!“, „25% reduziert!“ oder Ähnliches verkündeten. War ich womöglich in eine Lagerhalle gelangt? Die Größe des vor mir liegenden Bereiches konnte man durchaus als ein Indiz dafür ansehen – vor mir lag sicher eine halbe Sportplatzlänge kahler, grauer und teilweise von dicht an dicht stehenden Möbeln verdeckter Betonboden. Die Breite dieses Bereiches war deutlich kleiner als seine Länge; es konnten höchstens acht Meter sein. Die Decke jedoch befand sich in überaus großer Höhe: Die unzähligen Neonröhren, die von dort aus ihr kühles Licht verbreiteten, waren mindestens zehn Meter über mir. Auch der Boden sprach dafür, dass es sich nicht um eine normale Verkaufsfläche handelte, denn dort fand man für gewöhnlich ausschließlich Parkett und Teppichboden – keinesfalls rohen Beton. Und statt der mit Kunstdrucken übersäten Fassadenwänden waren es hier die bis unter die Decke reichenden, mit Kartons und Metallboxen gefüllten, türlosen Stahlschränke, die für die Abgrenzung des Areals sorgten. Trotz dessen beeindruckender Größe kam ich mir irgendwie eingeengt vor und so tat ich nur zögerliche Schritte auf die Inseln aus Möbeln und Gerümpel zu, die da vor mir aus einem See aus Beton ragten.
Durch Lücken zwischen den gestapelten Waren in den Schränken konnte ich sehen, dass die ein wenig an Hochhäuser erinnernden Stahlschränke vor einer in gleichem Maßen wie der Boden grauen Betonwand standen. War ich womöglich in eine Sackgasse geraten? Das wäre ärgerlich, denn sollte dies der Fall sein, würde ich den gesamten Weg über die eckige Wendeltreppe wieder zurückgehen müssen, wofür wahrscheinlich ohnehin keine Zeit mehr war. Ich warf ein Blick auf meine Uhr und musste mit Entsetzen feststellen, dass sie stehen geblieben war. Dies überraschte und verärgerte mich zugleich, denn es war eine teure, mechanische Uhr, eine IWC, die einiges an Geld gekostet hatte und sie war eine der wenigen Dinge, die mir wirkliche Freude bereiteten. Die Zeiger zeigten zwanzig vor Acht, woraus ich schloss, dass sie noch nicht lange stehen geblieben sein konnte. Wie es sich auch immer mit der Uhr verhielt war es zweifellos sicher, dass mir nur noch sehr wenig Zeit blieb, um das zu tun, wofür ich eigentlich hergekommen war. Ich überlegte, dass es womöglich das Beste sei, einfach umzudrehen und das Möbelhaus zu verlassen. Zu Hause wartete noch ein schönes Stück Arbeit auf mich, weswegen ich wahrlich Besseres zu tun hatte als ziel- und orientierungslos in einem Möbelhaus herumzuirren.
Gerade, als ich auf dem Absatz kehrt machen wollte, entdeckte ich an der sich von der Treppe aus gesehen links befindenden Wand eine kleine, unscheinbare Feuerschutztür, auf der das typische „Brandfluchtschild“ angebracht war: Ein weißes Männchen auf grünem Grund, das vor schmalen, weißen Flammen floh. Ich war erleichtert und zugleich sicher, dass ich durch diese Tür in den regulären Verkaufsbereich des Möbel-SB gelangen würde. Mein Weg zu der Tür führte mich durch die chaotischen Ansammlung aus alten Möbelstücken und Kisten, die ich mir im Vorbeigehen ein wenig näher ansah.
Besonders ins Auge stachen mir als „unfassbar günstig“ ausgewiesene Sonderangebote, die sich in den meisten Fällen als nutzlose Waren herausstellten, wie ockerfarbene Plastikmülleimer, hölzerne Kleiderständer im viktorianischen Stil oder geschmacklose Dekorationsfiguren. Derlei alter Krempel stapelte sich neben künstlichen Weihnachtsbäumen und übereinander geschichteten Lattenrosten – ich befand mich in einem regelrechten Dschungel aus augenscheinlich vergessenen Dingen, durch den ich mir den Weg zum Ausgang bahnen musste. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass über allem eine feine, pulvrige Staubschicht lag.
Mir wurde kalt.
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[Beitrag wurde 12x editiert, zuletzt von Lamarr am 22.08.2010, 12:59]
11.07.2010, 19:50 Uhr Anzeigen
# 2
Drakon  (28)
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Ichthyosaur
11.351 Punkte
Dabei seit: 23.12.2007
4.165 Beiträge
So dann werde ich mal was dazu sagen ^^.

ALso wirklich TOP, mehr kann man einfach nicht sagen, da einem bei deinem talent die worte fehlen ;).
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14.07.2010, 01:01 Uhr Anzeigen
# 3
geniusjay  (33)
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Hound Eye
155 Punkte
Dabei seit: 05.12.2008
72 Beiträge
super geschichte ! :)

bin schon gespannt wie's weitergeht !
16.07.2010, 16:34 Uhr Anzeigen
# 4
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Alien Grunt
3.121 Punkte
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813 Beiträge
Sehr nice und spannend geschrieben.
Wenn der Rest so weiter geschrieben wird wie der Anfang bisher, denke ich wird es "Alfred und die Abluft" noch übertreffen!
17.07.2010, 16:04 Uhr Anzeigen
# 5
Lamarr  (33)
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Ichthyosaur
10.036 Punkte
Dabei seit: 28.11.2004
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Erneut schüttelte ich den Kopf - diesmal heftiger - und griff mit dann mit beiden Händen fest an die Schläfen, während ich mit schnellen Schritten auf den Aufzug zuhielt. So sehr ich mich auch bemühte, die unerklärliche Panik, die nun seit wenigen Minuten von mir Besitz ergriffen hatte, ließ sich nicht ohne Weiteres abschütteln. Der Aufzug, der mir sonst kaum aufgefallen war, schien mir nun ebenfalls ein gewisses Unbehagen zu bereiten: Seine dunkelroten, mit Filzstift beschmierten Türen erschienen mir erdrückend schwer und ich scheute mich regelrecht, den Rufknopf zu drücken. Natürlich tat ich es trotzdem; nicht ohne danach die Finger an meiner Anzugshose abzureiben, als hätte ich sie an dem bräunlichen Plastik beschmutzt. Der Knopf glomm bräunlich-hell auf und mit einem dunkel grummeln setzte sich der Aufzug über mir in Bewegung. Nur Sekunden später glitt die Tür vor mir auf und ich trat ein. Sowie sich die Türen geschlossen hatten, begann mein Herz wieder wie wild zu schlagen. Ich seufzte laut vernehmlich und sah zur Decke des Aufzuges, wo ebenfalls eine Neonröhre grelles Licht verbreitete. Ich sah direkt in den weißen Balken hinein und nahm bereitwillig in Kauf, wie sich sein Umriss in meine Netzhaut einbrannte. Als ich die Augen schloss sah ich dir Röhre in wilden Farben pulsieren, vor tiefschwarzem Hintergrund.
Dann wurde mir bewusst, dass ich noch nicht auf den Knopf für das Erdgeschoss gedrückt hatte. Ein wenig verärgert über mich selbst senkte ich den Kopf und öffnete ruckartig die Augen, wobei im Sichtfeld wie erwartet der Umriss der Neonröhre tanzte. ich hob den Zeigefinger und führte ihn zur Wand des Aufzuges – doch alle Knöpfe waren verschwunden.
Verblüfft und irritiert stieß ich den Atem aus und war wir erstarrt. Innerlich krampften sich meine Eingeweide zusammen vor Angst, im selben Moment, in dem mir klar wurde, dass ich zur falschen Seite sah. Mit noch größerem Ärger über mich selbst und meine kindische Angst drehte ich mich um zur anderen Seitenwand des Aufzuges, wo sich selbstverständlich die beiden mir bekannten Knöpfe fanden: E und U, schwarz auf rundem Plastik, eingelassen in eine Platte aus gebürstetem Metall. Energisch drückte ich auf E, worauf sich der Aufzug sogleich in Bewegung setzte.
Als hätte ich eine große Aufgabe gemeistert, ließ ich mich seufzend an die Metallwand sinken und atmete aus. Mit kribbelnden Fingerspitzen trommelte ich einen Rhythmus an das Geländer, das auf Hüfthöhe wie eine eckige Schlange an den Innenwänden der Aufzugskabine entlanglief. Ein weiteres Mal schloss ich die Augen und atmete tief und aus. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Endlich legte sich die Panik. Welche Panik, sagte ich mir? Was sollte ich für Gründe haben, panisch zu sein? Welche? Ich zuckte mit den Schultern und hob die Hände zu einer fragenden Geste, als hätte ich meine Gedanken gerade laut ausgesprochen und wollte ihnen, einem imaginären Gesprächspartner gegenüber, mehr Ausdruck verleihen.
Während der Aufzug dabei war, die wenigen Meter zwischen Tiefgarage und oberirdischem Parkplatz zu überbrücken, wandte ich meine Gedanken der Sache zu, wegen der ich überhaupt zum Möbelhaus gefahren war: Der Erwerb eines neuen Couchtisches. Angestrengt überlegte ich, wann ich das letzte Mal im Möbelhaus Gastmann gewesen war. Es musste lange her sein, denn auf Anhieb konnte ich mich nicht erinnern. Ich runzelte die Stirn.
Dann fiel mir ein kurzer Besuch ein, der sich im Dezember des vorletzten Jahres zugetragen hatte. Dort war ich an einem düsteren Abend zum Möbelhaus gefahren, um ein Geschenk für meine Stiefmutter zu kaufen, von der ich wusste, dass sie einen Faible für lächerliche Katzenfiguren und ähnlichen Kitsch hegte. Zufällig hatte ich wenige Tage vorher in einer Werbebroschüre des Möbelhauses, welche mir aus der Tageszeitung entgegen geflattert war, genau eine derartige Porzellanfigur gesehen, von der ich sofort dachte, dass sie meiner Stiefmutter wohl gefallen würde, sodass ich als praktisch-rational denkender Mensch nicht umhin kam, die Gelegenheit zum Erwerb des wirklich passenden Geschenkes zu nutzen, obwohl mir ebendieses in höchstem Maße zuwider war. Nur einen knappen Monaten später erreichte mich eines Morgens per Telefon die Nachricht, dass meine Stiefmutter an einem Herzanfall verstorben war und groteskerweise war das erste, woran ich dachte, die an jenem Tag gekaufte Katzenfigur. Dieses unsagbar scheußliche Porzellanmachwerk, das eine orangene Katze mit spitzem Kopf und überdimensional großen Augen zeigte. Am Telefon schoss mir mit einem Mal Gedanke durch den Kopf, dass dies selbst für meine in Sachen Kitsch und schlechtem Geschmack bestens geschulte Stiefmutter zu viel gewesen sein könnte und ich musste mit aller Macht verhindern, am Telefon in hysterisches Lachen auszubrechen.
Doch jetzt, wo mir dieser Besuch wieder gegenwärtig war, wuchs die Sicherheit, dass dies nicht der letzte gewesen sein konnte. Zwischen dem Dezember des vorletzten Jahres und jetzt war ich definitiv öfters hier gewesen – nur wann? Und zu welchen Gelegenheiten?
All diese Überlegungen fanden ein jähes Ende, als der Aufzug mit einem scharfen Ruck zum Stillstand kam und die Neonröhre in der Kabine nach einem kurzen Flackern erlosch.
Ich war alleine, in einer engen Zelle aus erdrückender Dunkelheit.
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19.07.2010, 01:06 Uhr Anzeigen
# 6
nocake4you  (29)
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Barnacle
569 Punkte
Dabei seit: 06.05.2009
162 Beiträge
jaaa jaaa jaaa jaaa! Mehr, weiter! Ich finds immer wieder erstaunlich wie sehr mich dein schreibstil packt ^^

Ach ja, darf ich ein hörbuch mit gruselmusik draus machen? :P
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19.07.2010, 12:06 Uhr Anzeigen
# 7
Lamarr  (33)
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Ichthyosaur
10.036 Punkte
Dabei seit: 28.11.2004
2.897 Beiträge
Klar, wäre eine tolle Ergänzung. :)
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19.07.2010, 12:28 Uhr Anzeigen
# 8
mrqs  (33)
HLP - Redakteur
Nachricht offline Moderator
Bullsquid
1.825 Punkte
Dabei seit: 29.06.2008
890 Beiträge
Bei einem Hörbuch bzw. Hörspiel würde ich ebenfalls sehr gerne mitmachen :)

Ich spreche, wie von dir gewünscht, hier nochmal mein Lob und meine Anerkennung an dich aus, Lamarr. Deine Geschichten sind großartig und haben sehr großes Potenzial. In meinem Bekanntenkreis haben sich viele an einem Buch versucht, und teils auch kleinere Erfolge erzielt (mein Deutschlehrer über Philosophie, meine Geschichtlehrerin über eine Motoradreise) :D

Bei dir würde ich mir wünschen, dass du es viellleicht auch in naher Zukunft mal mit einem "richtigen" Buch probierst. Ich wäre jedenfalls einer deiner ersten Kunden und würde Werbung machen :)

Wie du es auch machst, bleib deinem Stil treu, du kannst noch weitaus größeres Publikum erreichen als hier ;)
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19.07.2010, 22:37 Uhr Anzeigen
# 9
Lamarr  (33)
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Ichthyosaur
10.036 Punkte
Dabei seit: 28.11.2004
2.897 Beiträge
Danke, danke, Danke. :)
Wenn am Hörbuch verschiedene Leute beteiligt sind, ist das natürlich noch interessanter.
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20.07.2010, 12:18 Uhr Anzeigen
# 10
TomahawxX  (33)
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Alien Grunt
3.805 Punkte
Dabei seit: 22.02.2008
1.269 Beiträge
Mein erster Gedanke war: Auf diese Geschichte ließe sich wunderbar eine Charakteristik der Hauptfigur schreiben. Sie sollte in Schulen zu diesem Zweck eingesetzt werden...ernsthaft.

Einfach Wahnsinn, wie glaubwürdig die Person rüberkommt. Im Laufe der Geschichte kann man in den einzelnen Situationen praktisch ihr Handeln vorhersehen, vorrausgesetzt man versteht die Persönlichkeit des Protagonisten.

Gute Arbeit
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20.07.2010, 13:03 Uhr Anzeigen
# 11
Lamarr  (33)
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Ichthyosaur
10.036 Punkte
Dabei seit: 28.11.2004
2.897 Beiträge
Vielen Dank. :)
In der Tat wird hier "indirekte Charakterisierung" benutzt, dass die Figur nur durch ihre Handlungen und durch die Art, wie sie ihre Gedanken artikuliert, gezeichnet wird.
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20.07.2010, 13:11 Uhr Anzeigen
# 12
Lamarr  (33)
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Thread-Starter
Ichthyosaur
10.036 Punkte
Dabei seit: 28.11.2004
2.897 Beiträge
Das Einzige, was ich jetzt noch hörte, war mein stetig lauter werdendes Atmen. Mit verschwitzten und zittrigen Händen hielt ich das Metallgeländer umklammert und hörte mich selbst japsen wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezerrt hatte.
Der Rufknopf, sagte ich mir, der Rufknopf. Es musste einen geben, das ist Vorschrift. Vorschrift, Vorschrift, Vorschrift, hallte es wie ein Mantra in meinem Kopf und ich konnte mich überwinden, die Hände langsam von dem kalten Eisengeländer zu lösen, um sie dann tastend vor mein Gesicht zu heben. Dann streckte sich sie weiter aus, in der Erwartung, die metallene Wand der Kabine zu berühren, doch es geschah nicht. Übelkeitserregende Panik legte sich auf meine Brust und presste mir die Luft aus den Lungen – ich ruderte mit den Armen aber traf auf keinen Widerstand. Mit zögerlichen Schritten begann ich langsam im Kreis zu laufen, wie ich es vor einer gefühlten Ewigkeit in meinem Wohnzimmer getan hatte. Doch gänzlich war nun die Sicherheit verschwunden, die mir diese Tätigkeit normalerweise verschaffte; vom Gefühl der Kontrolle und der Beruhigung war nun nichts mehr übrig.
Unweigerlich kam ich von der Bahn meines Kreises ab und flog in die formlose Dunkelheit hinaus, die in der Aufzugskabine entstanden war und die sich zweifellos weit über ihre Grenzen hinaus ausgedehnt hatte – wie sonst war es möglich, dass ich trotz meiner hektischen Bewegungen auf keinen Widerstand traf? Weit streckte ich die Arme vor mir aus, wie ein Schlafwandelnder und lief vorsichtig geradeaus, Schritt für Schritt.
Ich nahm alle Selbstbeherrschung zusammen, die ich in diesem aufrechten Sarg aus Metall in mir finden konnte und begann meine Schritte zu zählen.
Eins.
Zwei.
Drei.
Vier.
Fünf.
Sechs.
Ich erstarrte.
Es war unmöglich. Ich war mir absolut sicher, dass beim Einsteigen gerade einmal drei kurze Schritte genügt hatten, um die der Aufzugstür gegenüberliegende Wand zu erreichen und so die gesamte Länge der Kabine zu durchmessen. Und nun war ich schon ganze sechs Schritte durch die Dunkelheit gegangen, ohne auf jene Wand zu treffen. Gelähmt vor Angst blieb ich stehen und traute mich nicht, eine weitere Bewegung auszuführen. Der Drang zu Rennen war stark, aber wäre das nicht töricht? Insgeheim ahnte ich, dass ich durch den mir bekannten Raum in eine finstere Unendlichkeit geglitten war, in der ich Äonen hätte rennen können, ohne auf eine Wand zu stoßen, aber wollte ich mir den Beweis dazu selbst erbringen, endgültig und unwiderlegbar?
Nein, sagte ich mir bestimmt, es darf nicht sein, was nicht sein kann.
Mit zögerlicher Stimme begann ich in die Dunkelheit zu flüstern:
„Der Raum ist ein dreidimensionales Gebilde, welches in seiner Ausdehnung durch Länge, Breite und Höhe definiert wird. Diese Kabine kann ihre Maße nicht verändern. Sie ist fest. Der Raum ist fest.“
„Der Raum ist fest!“, sagte ich noch einmal, diesmal lauter – so laut, dass ich hören konnte, wie meine Stimme in der Ferne widerhallte, als stünde ich in einer großen, menschenleeren Kathedrale.
„Oh mein Gott.“, hörte ich mich selbst von weitem flüstern und wurde dann bewusstlos.
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21.07.2010, 19:56 Uhr Anzeigen
# 13
geniusjay  (33)
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Hound Eye
155 Punkte
Dabei seit: 05.12.2008
72 Beiträge
super weitergeführt ! :)

super spannend !
22.07.2010, 15:25 Uhr Anzeigen
# 14
nocake4you  (29)
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Barnacle
569 Punkte
Dabei seit: 06.05.2009
162 Beiträge
Ja geil! Immernoch super! :D
Da hast du dich jetzt ja in eine schöne situation hineingeschrieben, ich bin gespannt, wie du da wieder "heraus" kommst ;)
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Ich mach Musik
23.07.2010, 16:01 Uhr Anzeigen
# 15
Lamarr  (33)
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Thread-Starter
Ichthyosaur
10.036 Punkte
Dabei seit: 28.11.2004
2.897 Beiträge
Anders als sonst muss ich mich auf die Mathematikhausaufgaben konzentrieren – das ist ungewöhnlich, es macht mich geradezu wütend. Denn Mathematik macht mir keine Probleme; ich konnte schon rechnen, bevor ich lesen und schreiben konnte.
Doch heute ist es anders: Nur mit vollster Anstrengung kann ich meine Gedanken zusammenhalten und mich auf die Zahlen fokussieren. Dennoch verschwimmen sie in Gedanken immer wieder von neuem. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert.
Ich bekomme Angst.
Stumm und starr sitze ich an dem kleinen Holztisch, den ich zum elften Geburtstag bekomme hatte, als ich – wie erwartet – auf das Gymnasium übertrat. Hinter mir ist eine weiße, leere Wand, so leer wie mein Zimmer, so leer wie ich.
Bis auf die schwere Holztür, die vor einigen Augenblicken aus dem Nichts erschienen ist. Wenn ich meine Aufgaben erledige, geschieht das hin und wieder. Es ist keine Absicht.
Ich weiß mittlerweile, dass mir nichts passieren kann, wenn ich nicht hindurchgehe, aber das Unbehagen lässt sich nicht abschütteln und es beeinträchtigt meine Konzentrationsfähigkeit erheblich.
Ich fasse allen meinen Mut zusammen, und setze dazu an, mich auf meinem Holzschemel umzudrehen. Letztendlich gewinnt die Neugierde immer.
Gerade in dem Moment, als ich es tun will, schneidet sich die barsche Stimme meiner Stiefmutter durch die Luft. Mit bleichem Gesicht starre ich sie an und die Panik wird stärker.
„Was ist Jakob? Siehst du wieder Türen?“ Spöttisch schüttelt sie den Kopf und verlässt mein kleines Zimmer.
Ruckartig drehe ich mich um und balle die Faust. Die Tür ist verschwunden.


Grelles, flackerndes Licht. Ein Rumpeln. Ich wurde durchgeschüttelt. Benommen öffnete ich die Augen. Wo war ich? Die Aufzugskabine, fiel es mir ein. Ich war stecken geblieben. Und ohnmächtig geworden!
Gerade hatte sich die Aufzugskabine wieder in Bewegung gesetzt, wodurch ich wohl wieder zu Bewusstsein gekommen war und langsam erlangte ich meine Fassung wieder zurück. Ich rechnete fest damit, dass das Möbelhaus nun geschlossen haben würde, schließlich war ich mindestens eine Viertelstunde ohnmächtig gewesen, das hatte ich einfach im Gefühl. Doch als ich einen Blick auf meine Armbanduhr warf, stellte ich erfreut fest, dass seit meiner Ankunft im Parkhaus gerade einmal zehn Minuten vergangen waren. Ich würde also noch genug Zeit haben, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen und wenigstens einmal das Angebot an Couchtischen zu schichten. Andererseits kam es mir beinahe unglaublich vor, dass sich die tatsächlich vergangene Zeitspanne so signifikant von der gefühlten unterschied, wo ich doch üblicherweise verstrichene Zeit auf die Minute genau schätzen konnte.
Doch noch viel wichtiger: Was war überhaupt geschehen? Erschreckt stellte ich fest, dass ich von den Geschehnissen in der Aufzugskabine, die in diesem Moment zum Stillstand kam, worauf sich die Türen langsam öffneten, kaum noch etwas wusste. Die Schwärze, die sich nach dem plötzlichen Erlöschen der Neonröhre in der Kabine breit gemacht hatte, war auch in mein Gedächtnis gedrungen und hatte sich dort hartnäckig festgesetzt. Wie ein Tuch überdeckte sie all das, was ich unmittelbar vor – und womöglich auch während? – der Ohnmacht gedacht hatte.
Ich war froh, als ich das künstliche Licht der Aufzugskabine verlassen konnte und endlich vor dem Eingang des Möbelhauses angekommen war, der jetzt im warmen Abendlicht lag. Die breite, mit grauen Steinplatten gedeckte Front, schien aus ihrem Inneren heraus zu Glühen.
Es schien so, als konnte dieses volle, warme Licht sogar den fahlen Abklang der Panik vertreiben, der mir immer noch auf der Brust lag. Je mehr ich es versuchte, sie hervorzuholen, desto verschwommener wurde die Erinnerung an die Geschehnisse in der Tiefgarage und in der Aufzugskabine.
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[Beitrag wurde 1x editiert, zuletzt von Lamarr am 25.07.2010, 13:30]
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